- Waldorfschulen: Die Leitideen des Rudolf Steiner
- Waldorfschulen: Die Leitideen des Rudolf SteinerEs gibt heute etwa 600 Waldorfschulen weltweit, davon mehr als 400 in Europa. Sie sind damit die größte unabhängige Privatschuleinrichtung der Welt. Der Lehrplan dieser Schulen ist übernational und überkonfessionell christlich ausgerichtet. Jede einzelne Waldorfschule ist selbstständig, Schulträger ist jeweils ein eigener Schulverein, in dessen Vorstand Eltern und Lehrer gleichberechtigt sind.Name und Geschichte der SchulenDer Name der Schulen rührt her von der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, deren Direktor Emil Molt 1919 in Stuttgart für die Arbeiter- und Angestelltenkinder seiner Firma eine private Gesamtschule gründete. Als erster Leiter dieser Schule formulierte Rudolf Steiner die organisatorischen und pädagogischen Leitideen. Er schuf sie auf der Grundlage der Anthroposophie. Die acht bestehenden Waldorfschulen wurden 1938 durch die Nationalsozialisten verboten. Nach dem Krieg gab es ab 1945 zahlreiche Neugründungen. Es gibt heute etwa 600 Waldorfschulen weltweit, davon mehr als 400 in Europa.Rudolf Steiner — die BiografieRudolf Steiner kam am 27. 02. 1861 als Sohn eines österreichischen Bahnbeamten im jugoslawischen Kraljevica zur Welt. Er wuchs in der Nähe von Wien auf. Steiner studierte Naturwissenschaften und Mathematik an der Technischen Hochschule in Wien, wandte sich aber auch literaturhistorischen Studien zu und promovierte zum Dr. phil. Vor allem mit Goethes naturwissenschaftlichen Studien beschäftigte sich Steiner. Nach verschiedenen Publikationen über Goethes Weltanschauung wurde er 1890 Mitarbeiter am Goethe-Schiller-Archiv in Weimar und arbeitete bis 1897 an der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften in der Weimarischen Goethe-(Sophien-)Ausgabe. 1897 erschien sein Buch »Goethes Weltanschauung«. 1897—1900 war er Redakteur des »Magazins für Literatur« in Berlin. 1902 schloss er sich der Theosophischen Gesellschaft an, von der er sich 1913 trennte, um seine Anthroposophische Gesellschaft und das Goetheanum in Dornach bei Basel zu gründen. 1919 wurde er Leiter der Waldorf-Gesamtschule in Stuttgart. Er starb am 30. 03. 1925 in Dornach.Die AnthroposophieStufenweise EntwicklungDie von Rudolf Steiner 1913 nach seinem Bruch mit der Theosophie gegründete Weltanschauungslehre der Anthroposophie besagt von ihrem Namen her »Weisheit vom Menschen über den Menschen«. Sie sieht den Menschen in einer Welt, die sich in einer stufenweisen Entwicklung befindet. Diese Entwicklung hat der Mensch einfühlend und erkennend nachzuvollziehen, um so »höhere« seelische Fähigkeiten zu entwickeln und »übersinnliche« Erkenntnisse zu erlangen. Dabei ist die Anthroposophie stark an Goethe und seinem Weltbild orientiert. Zudem ist sie beeinflusst von christlichem, indischem, gnostischem und kabbalistischem Gedankengut. Zentrum ist das »Goetheanum« im schweizerischen Dornach, eine »Freie Hochschule für Geisteswissenschaften«.Wechsel zwischen der geistigen und physischen WeltDie Anthroposophie sieht den Menschen als aus Geistigem hervorgegangen und auf dem Weg der Rückkehr in ein dereinst nur geistiges Dasein. So lebt der Mensch nicht allein zwischen Geburt und Tod auf der Erde, sondern zwischen dem Tod und einer neuen Geburt in der höheren geistigen Welt. Die Anthroposophie versteht demnach jede Geburt als Rückkehr aus dieser geistigen Welt, den Tod als eine neue Geburt in ihr. Durch den Wechsel zwischen der geistigen und physischen Welt findet der Mensch zu immer neuen Stufen der Selbstwerdung. Die verschiedenen Phasen seines Lebens sind verbunden durch das Karma, den geistigen Extrakt des jeweiligen Lebens. Die Anthroposophie sieht den Menschen aufgegliedert in Leib, Seele und Geist, die jeweils in langen Phasen kosmischer Prozesse sich ausbildeten. Der Leib teilt sich nach der Anthroposophie auf in den physischen, den Äther- und den Astralleib.Zentralpunkt der menschlichen Existenz ist das Ich, wodurch der Mensch der geistigen Welt angehört. Stirbt er, so trennen sich Ich und Astralleib von den restlichen Wesensgliedern. Ich und Astralleib werden dann in der geistigen Welt in ihrer Entwicklung verstärkt durch höhere Geistmächte (Götter, Erzengel, Engel, vollkommene Menschengeister). Entwickelt sich der Mensch weiter, kann es zur Ausformung weiterer Wesensglieder kommen, und zwar zum Geist selbst (Manas), zum Lebensgeist (Budhi) und schließlich zum Geistesmenschen (Atma).Die Entwicklungsstadien der ErdeNach der Anthroposophie ist der gesamte Kosmos der Evolution unterworfen. So hat auch die Erde bis heute bereits drei vorherige Entwicklungsstadien durchgemacht, die jeweils einem menschlichen Wesensglied entsprechen. Es sind dies der Saturnzustand (physischer Leib), der Sonnenzustand (Ätherleib) und der Mondzustand (Astralleib). Drei weitere Stadien der Erde werden noch folgen: der Jupiter-, der Venus- und der Vulkanzustand. Die Erde ist das Umfeld für die geistig-kulturelle Entwicklung der Menschen. Es gibt auf ihr insgesamt sieben Zeitalter. Wir Menschen der Gegenwart befinden uns im fünften Zeitalter, dem Nachatlantischen. Dieses ist unterteilt in sieben Kulturepochen, wobei wir uns in der fünften, der griechisch-lateinischen befinden. Hier entwickelt sich die Ausgestaltung des menschlichen Ichbewusstseins. Das Ich erreicht seine höchste Form in der des Christus. Auf dem Weg zum Christus-Mysterium gelangte der Mensch zu Selbstständigkeit und Freiheit. Wachsen kann das Ich des Menschen nur in der Auseinandersetzung mit der physischen Welt.In die Liebe hineinwachsenDas größte Manko ist aber die Tatsache, dass der Mensch Weisheit und Macht erlangt hat, ohne dabei in die Liebe hineinzuwachsen. Diese Liebe ist durch Christus als Gabe der Gottheit so in der Welt verankert worden, dass die Christuswesenheit zum Geist der Erde geworden ist, während sie vorher auf der Sonne ihre Heimat hatte. Der Tod Christi hat bewirkt, dass die Erde zum wahren Leib der Christuswesenheit geworden ist. Die Anthroposophie geht davon aus, dass es zwei Christusknaben gegeben hat, die dann im Alter von zwölf Jahren zu einem verschmolzen sind. »Das Mysterium von Golgatha«, also der Tod Christi, ermöglicht eine wesensmäßige Weiterentwicklung des Ich. Durch sie erreicht man immer höhere Formen der Vergeistigung, das letzte Ziel bleibt aber auch dem anthroposophischen Forscher verborgen, der nicht in der Lage ist, bis in die letzte Zukunft hinein vorauszuschauen.Alle Lebensbereiche weltanschaulich durchdringenAnliegen der Anthroposophie ist es, alle Lebensbereiche weltanschaulich zu durchdringen. Dies gilt für die Pädagogik mit den Waldorfschulen ebenso wie für die Medizin als anthroposophische Heilkunst, für die von Steiner geschaffene Eurythmie als selbstständige neue Kunstform und auch für den biologisch-dynamischen Landbau. Oft kann die Anthroposophie auf diese Weise Alternativen zur rein rational-technischen Schulmeinung anbieten. Durch Deutung jedes Geschehens im Sinne der anthroposophischen Weltanschauung kommt es jedoch auch immer wieder zu Fehl- und Umdeutungen der Wirklichkeit. Die Anthroposophie sieht sich als Geisteswissenschaft, die Einsichten in die höheren Welten vermittelt, nicht jedoch als Religion, obwohl ihre Ideen in Gestalt der Christengemeinschaft auch auf eine religiöse Gemeinschaft ihre Auswirkungen haben können.Der Lehrplan der WaldorfschulenKein SitzenbleibenIn den Waldorfschulen erhalten die Schülerinnen und Schüler Unterricht, der ihrer Entwicklungsstufe entspricht. In dem 12-jährigen Bildungsgang der Waldorfschulen gibt es kein Sitzenbleiben, Elternbriefe und Schülercharakteristiken ersetzen die Zeugnisse. Im Mittelpunkt des Unterrichts stehen künstlerische und handwerkliche Fächer. Ziel ist es, anders als bei den traditionellen Schulen mit ihrer leistungsorientierten Auslese, eine breit angelegte Begabtenförderung zu erreichen. Der Unterricht in Fremdsprachen beginnt im ersten Schuljahr. Die Kinder haben bis zum 8. Schuljahr einen Klassenlehrer, danach unterrichten Fachlehrer. Im 13. Schuljahr wird auf das staatlich anerkannte Abitur vorbereitet.Drei LernphasenDie Pädagogik auf der Basis der Anthroposophie sieht beim Kind zwei altersspezifische Veränderungen in der Gesamtkonstitution und damit drei Phasen des Lernens. In der ersten Phase bis zum siebten Lebensjahr ist das Lernen unreflektiertes Nachahmen von Vorbildern. Die zweite Phase (siebtes bis 12./14. Lebensjahr) ist gekennzeichnet von dem Erwerb der Fähigkeit des Kindes, willkürlich Vorstellungen zu bilden. Dabei vermittelt der Lehrer Vorstellungen, in denen geistige Zusammenhänge (»Bilder«) enthalten sind. Dieser »bildhafte« Unterricht fördert die Fähigkeit zu denken und zu erleben, er stärkt Gedächtnis und Charakter. Schwerpunkt der dritten Phase (ab dem 15. Lebens- bzw. 9. Schuljahr) ist dann die Förderung der Fähigkeit zu autonomem Denken und Urteilen. Ein wichtiges Element in dem Bestreben, die Schüler vielseitig, also neben den klassischen Fächern auch in künstlerischem und handwerklichem Unterricht zu fördern, ist die Eurythmie, eine Bewegungskunst (und auch -therapie), bei der Laute, Wörter oder Gedichte sowie Vokal- und Instrumentalmusik in raumgreifende Ausdrucksbewegungen umgesetzt werden.Es gelten die Bestimmungen der öffentlichen SchulenIn allen Waldorfschulen gelten die Bestimmungen der öffentlichen Schulen und die gesetzlichen Vorschriften zur Schulaufsicht. Es wird konfessioneller Religionsunterricht von den Vertretern der jeweiligen Konfession angeboten, allen konfessionell ungebundenen Schülern und denen, die sich vom Religionsunterricht abgemeldet haben, bieten die Waldorfschulen einen »Freien christlichen Religionsunterricht«.Martina Kayser: Wie frei ist die Waldorfschule. Geschichte und Praxis einer pädagogischen Utopie. München 21998.Unser Kind geht auf die Waldorfschule, herausgegeben von Hildegard Bußmann. Reinbek 1998.Carlo Willmann: Waldorfpädagogik. Theologische und religionspädagogische Befunde. Köln 1998.Ernst-Michael Kranich: Anthropologische Grundlagen der Waldorfpädagogik. Stuttgart 1999.Montessori-, Freinet-, Waldorfpädagogik. Konzeption und aktuelle Praxis, herausgegeben von Achim Hellmich u. a. Weinheim 41999.Dirk Randoll: Waldorfpädagogik auf dem Prüfstand. Berlin 1999.
Universal-Lexikon. 2012.